Sonntag, 22. August 2010, 12:26 Uhr
Die Uhr tickt gnadenlos für Guido Westerwelle: noch 217 Tage, dann ist seine Zeit als FDP-Vorsitzender vorbei. Wenn die FDP, wie erwartet, am 27. März bei der baden-württembergischen Landtagswahl (Ergebnis 2006: 10,7 Prozent) und der rheinland-pfälzischen Wahl (Ergebnis 2006: 8,0 Prozent) desaströs abschneidet, wird ihn die Partei aus dem Amt jagen. Und es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass Westerwelle sein Schicksal noch wenden kann.
Im Gegenteil: seine erneute Forderung nach Steuersenkungen (“Aufschwungdividende”) lässt selbst seine Freunde daran zweifeln, dass er aus dem beispiellosen Niedergang seiner Partei etwas gelernt hat. Schon wendet sich sein größter Förderer, Hans-Dietrich Genscher, mit dem Hinweis ab, die Verengung auf das Thema Steuersenkungen “war sicher ein Fehler”. Und der alte Fuchs Gerhart Baum prophezeit eine “Personaldiskussion. Dann wird man sicher auch über Ämter reden müssen”. Die Julis schreiben Westerwelle ins Stammbuch: “Die Zeiten, in denen die Politik den Wähler für dümmer verkaufen will als er ist, müssen endlich ein Ende haben”.
In der FDP werden sich in den nächsten Monaten die Kräfte durchsetzen, die glauben, nur mit einem personellen Befreiungsschlag könne die FDP ihren Niedergang stoppen. Ihre traditionellen Sachthemen hat die FDP verloren. Sie sind von der Realität hinweggefegt worden. Auch der immerwährende Ruf, die FDP müsse sich wieder stärker als Bürgerrechtspartei profilieren, scheitert bisher daran, dass der eigentliche Kopf dieser Richtung, Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger, kein Bürgerrechtsthema auf die Reihe kriegt und eine bittere Enttäuschung ist. Und der Aufschwungplauderer Rainer Brüderle rettet die FDP auch nicht.
Deshalb werden die Stichworte “Ämtertrennung” und “personeller Neuanfang” die FDP-Themen des nächsten halben Jahres, wenn sich die Partei nicht ganz aufgeben will.
Westerwelle hat aber nicht nur als Parteichef versagt, sondern auch als Außenminister. Es ist schon eine Kunst, in diesem Amt so unpopulär zu sein wie er. Keine Idee, kein außenpolitisches Projekt, keine Europa-Inititiative, kein Friedensplan verbindet sich mit seinem Namen. Er hätte auch gar nicht die Kraft dafür. Im Ausland spricht Angela Merkel für Deutschland, Westerwelle darf nur als “Muttis Kleiner” die Welt bereisen. Deshalb sollte die FDP überlegen, ob sie im nächsten Jahr nicht einen radikalen Schnitt macht. Denn auch als Nur-Außenminister wird Westerwelle seiner Partei nichts mehr nützen.
Die FDP hat nur noch eine letzte Chance: sie muss zu einer radikalen Fortschrittspartei werden (keine Ähnlichkeit mit der dänischen), die mutig die Tabus der großen Parteien infrage stellen. Eine Partei, die nicht auf ihre Regierungsämter schielt. Sie muss die deutsche Bildungspartei werden, die Partei der Jungen, die Partei der Berufschancen. Ohne Bildung keine Freiheit. Dazu gehört die Abschaffung des irrwitzigen Bildungsföderalismus. Länderneugliederung, Reduzierung auf fünf oder sechs Bundesländer wäre auch ein solches Thema. Und Steuergerechtigkeit statt Steuersenkungen, Abschaffung der Mehrwertsteuer-Ausnahmen (bis auf Lebensmittel, Bildung und Kultur), Rücknahme der Hotelsubvention.
Und die FDP sollte endlich soziale Gerechtigkeit als liberales Thema entdecken. Schon 1971 schrieb der große FDP-Denker Karl-Hermann Flach: “Die Befreiung von der Existenzangst, soweit menschenmöglich, gehört zu den entscheidenden liberalen Aufgaben der Massengesellschaft”.
Es gäbe viel zu tun – aber nicht für Westerwelle, Brüderle, Niebel, Leutheusser-Schnarrenberger und Homburger. Zur radikalen Fortschrittspartei gehört auch ein radikaler personeller Neuanfang. Generalsekretär Christian Lindner könnte vielleicht die neue Figur an der Spitze werden, zusammen mit Philipp Rösler, möglichst befreit vom Gesundheitsministerium, das ihm Westerwelle angehängt hat. Dazu ein paar starke junge Leute aus der Fraktion. Mit einer neuen, jungen Führung könnte die FDP auch versuchen, die Partei der Internetgeneration zu werden, nachdem das Projekt Piratenpartei gescheitert ist. Dazu gehören neue Formen der politischen Partizipation via Internet und Internet-Mitgliedschaften.
Die FDP hat nicht mehr viel Zeit und sie hat nicht mehr viel zu verlieren. Die Uhr läuft ab, nicht nur für Guido Westerwelle. Wenn Karl-Hermann Flach noch leben würde, dann hieße seine heutige Streitschrift nicht mehr “Noch eine Chance für die Liberalen”, sondern “Eine letzte Chance für die Liberalen”. Selbst die Zahl der Trauernden am FDP-Grab wäre heute überschaubar.